Forschungsprojekte
Rhetorik der Versöhnung bei Paulus

Im Rahmen der rhetorischen Untersuchung der Briefliteratur des Neuen Testaments (z.B. H. Probst: Paulus und der Brief: die Rhetorik des antiken Briefes als Form der paulinischen Korintherkorrespondenz [1 Kor 8 - 10]. WUNT 2/45. Tübingen, 1991; V. Jegher-Bucher: Der Galaterbrief auf dem Hintergrund antiker Epistolographie und Rhetorik: ein anderes Paulusbild. Abh.ThANT 78. Zürich, 1991; R. D. Anderson: Ancient rhetorical theory and Paul. Kampen, 1996) wird vorausgesetzt, dass die briefliche Mitteilung wesentliche Gemeinsamkeiten mit der mündlichen Kommunikation hat und deshalb unter den Regeln der antiken Rhetorik untersucht werden kann. Auch antike Theoretiker der Briefgattung sehen Gemeinsamkeiten zwischen mündlicher Rede und brieflicher Kommunikation (vgl. Ps.-Demetrios, Typoi Ep. 11/4; Demetrios, de elocutione 223-235; Dio Chrysostomus, Discourse 18.18; Cicero, Qu.fr. 1.1.45, Att. 12.53, fam. 15.19.1 u.ö.; Ovid, tr. 4.4.23/6, ex P. 1.2.5/8). Zu berücksichtigen ist auch die noch wesentlich von Mündlichkeit bestimmte Kultur der Antike.

Eine spezielle Aufgabe der Rhetorik ist es, Spannungen zwischen Personen abzubauen und Streit zu schlichten. Diesem Ziel dienen auch einige Briefe des Paulus (z.B. Röm) oder bestimmte Abschnitte seiner Briefe (z.B. 1.Kor 9; 11; 12-14). Trotz gründlicher rhetorischer Untersuchungen der Paulusbriefe unter dem Aspekt der Versöhnung (z.B. M. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation: An Exegetical Investigation of the Language and Composition of 1 Corinthians. Hermen. Unters. zur Theologie 28. Tübingen: 1991) sind einige diesem Ziel dienende rhetorische Strategien des Paulus bisher zu wenig beachtet worden. Es geht insbesondere um die Methode, innerhalb eines Briefes (oder einer Rede) zwei gegeneinander stehende Parteien so anzusprechen, dass gegenseitiges Verurteilen beendet wird, dass das gegenseitige Verständnis wächst, dass die Gemeinsamkeiten gestärkt und die Differenzen vermindert werden.

Es wird untersucht, wie Paulus Einzelpersonen und Gruppen, zwischen denen es Spannungen durch gegensätzliche Auffassungen oder Handlungen gibt, anspricht, um die Feindschaft zu beenden. Die Untersuchung zeigt, dass es zur rhetorischen Methode des Paulus gehört, abwechselnd beide Seiten anzusprechen und jeweils die andere Seite aufzuwerten. Das Projekt schließt die Untersuchung folgender Textabschnitte ein: Röm 14-15; 1Kor 7; 1Kor 8-10; 1Kor 12-14; 2Kor 2,5-10; Phil 4,1-3; 1Thess 5,12-15.27. Weil es sich nicht um allein paulinische Rhetorik handelt, werden außerbiblische Quellen - antike Werke über Rhetorik, aber vor allem antike Briefliteratur - einbezogen, insofern sie Parallelen für die rhetorische Strategie des Paulus bieten. Ziel der Studie ist, zum Verständnis von Textaussagen und Textstrukturen der neutestamentlichen Briefe beizutragen, die ohne die Kenntnis dieser antiken rhetorischen Strategien unklar bleiben oder fehlgedeutet werden.

Studien zum Thema:

Bernhard Oestreich: "Leseanweisungen in Briefen als Mittel der Gestaltung von Beziehungen (1 Thess 5.27)." New Testament Studies 50, 2004, 224-245.

Bernhard Oestreich: "Letter Reading as Performance: Paul Addressing Distinguishable Groups of the Audience." Paper read at the International Meeting of the Society of Biblical Literature, Groningen, July 27, 2004.

Bernhard Oestreich: "Was Jesus Being Cursed at Corinth (1 Corinthians 12:3)? Performance Criticism Sheds Light on a Difficult Passage." Paper read at the International Meeting of the Society of Biblical Literature, Vienna, July 24, 2007.

Bernhard Oestreich: "Oral performance before a split audience: Letter reading in Rome, Galatia, and Corinth." Paper read at the Annual Meeting of the Society of Biblical Literature, Boston, November 23, 2008.
Abstract: Letters of early Christianity were designed to be orally performed before the assembly of the church. Not only the text, but also temporal and spatial circumstances, socio-historical factors, the performer who “embodies” the text with tone, face expression, gesture and movement, and–of course–the audience with its expectations and reactions, all are crucial for the event. This paper deals especially with the situation of an audience that is divided into factions. It is assumed that the author of the letter anticipated the performance situation and the dynamics that would develop between the various groups in the church. What kind of reaction does the author provoke by his manner of addressing the different groups? Passages of Paul’s letters to the Romans and to the Galatians and of Clement of Rome to the Corinthians are investigated. In Romans 14-15, the apostle addresses the “strong” and the “weak” in the congregation in turn using an almost balanced parallelism. The letter of Clement normally speaks to the ordinary members of the Corinthian church, but at certain points of the performance a small group of troublemakers is addressed explicitly. In his letter to the Galatians, Paul never addresses his opponents although it is certain that the church was divided (Gal 5:15) and some of the members had taken side with the promoters of circumcision. The paper argues that the manner of addressing the members of the audience in these letters is deliberately chosen in order to achieve a certain effect: reuniting the church, winning back some of the opponents, or getting rid of them.

Bernhard Oestreich: Performanzkritik der Paulusbriefe. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. Tübingen: Mohr Siebeck, 2012.



Die Sprache des Absurden bei Jesus

Es werden die Logien Jesu untersucht, die in bildhafter Form Paradoxa, Absurditäten oder negierte Selbstverständlichkeiten enthalten. Zum Beispiel:
      "Zündet man etwa ein Licht an,
      um es unter einen Scheffel oder unter eine Bank zu setzen?
      Keineswegs,
      sondern um es auf den Leuchter zu setzen." (Mk 4,21)
Besonderes Augenmerk gilt der sprachlichen Gestalt, der kommunikativen Funktion und dem Sitz im Leben dieser Redeform.
Es zeigt sich, dass die Funktion dieser Ausdrucksweise dreifach bestimmt werden kann. Dabei haben die ersten beiden Funktionen erhebliches polemisches Potential.
 
1. Sprachliche Absurditäten drücken die Widersinnigkeit des gottlosen menschlichen Verhaltens aus. Die Sünde wird in ihrer ganzen Absurdität und Lebensfeindlichkeit charakterisiert. Die bevorzugte Gattung ist die Anklagerede. Diese Art der sprachlichen Absurditäten ist schon bei den alttestamentlichen Propheten zu finden.
 
2. Sprachliche Absurditäten drücken aus, wie töricht es wäre, die Gelegenheit des Heilsangebots zu verpassen oder unangemessen zu reagieren. Diese Redeweise ist besonders typisch für Jesus. Sie offenbart die Auseinandersetzung über die angemessene Deutung der Zeit, in der sich Jesus mit seinen Gegnern befand. Die bevorzugte Gattung ist der weisheitliche Spruch. Diese Art der sprachlichen Absurditäten ist schon in der nachexilischen Weisheit Israels zu finden.
 
3. Sprachliche Absurditäten dienen dazu, die totale Andersartigkeit und Unvorstellbarkeit der Verhältnisse in der eschatologischen Welt zu beschreiben. Diese Art der absurden Aussage findet sich vor allem in prophetischen und apokalyptischen Zusammenhängen.

Studien zum Gebrauch absurder Bilder:

Bernhard Oestreich: "Absurd Similes for Israel in the Book of Hosea." Creation, Life, and Hope: Essays in Honor of Jacques B. Doukhan. Hrg. Jiri Moskala. Berrien Springs: Andrews University, 2000, 101-126.

Bernhard Oestreich: "Ein bisschen verrückt und gar nicht leise - Bildersprache bei den Propheten und bei Jesus." Vortrag auf dem Nikolasseer Forum, Berlin-Nikolassee, 20. März 2004.

Bernhard Oestreich: "Absurde Bilder bei Jesus - Kampf mit Worten." Geschichte - Gesellschaft - Gerechtigkeit: Festschrift für Baldur Pfeiffer. Johannes Hartlapp, Stefan Höschele (Hg.). Berlin: Frank & Timme, 2007, 191-208.


Reaktion zu den Projekten: B.Oestreich@online.de

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